Wenn der weiße Flieder wieder blüht, dann denke ich nicht nur an den gleichnamigen Schlager oder den Film, sondern mein Hirnarchiv spuckt ungefragt ein kleines Kapitel meiner Schulzeit aus. Die Reise geht dann zurück in die Mitte der Siebziger Jahre. Damals besuchte ich das Rosenmaar Gymnasium und hatte das große Glück, zu der im Vorort der Stadt immer noch verknöcherten Zeit, von einem unkonventionellen und progressiven Deutsch- und Kunstlehrer unterrichtet zu werden. In einem Unterrichtsabschnitt des Kunstunterrichtes ging es um die Fotografie und die Aufgabenstellung war, eine Aufnahmenreihe zu gestalten, die sich aus sechs Fotografien zusammensetzt. Dazu händigte unser Lehrer uns seine Kamera aus: Eine Agfa Silette LK.
Eine richtige Kleinbildkamera, die sich auch heute noch wertig und stabil anfühlt. Stolz wie nach einer gewonnen Oskarverleihung taperten mein Freund Thomas und ich mit der Kamera nach Hause. Wir wohnten im gleichen Haus und es war unausgesprochen klar, dass wir die Aufgabenstellung gemeinsam angehen. Schließlich hatten wir schon vor dem Wechsel zum Gymnasium die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckelberry Finn nachgespielt und und die der verwestlichten Indianderabziehbilder rund um Winnetou und anderer edlen Krieger sowieso. Ich entschied mich für eine Aufnahmereihe des weißen Flieders in voller Blüte, der im Garten ein paar Meter neben einer roten Haselnusshecke stand.
Nahaufnahme, Halbtotale und Totale mit den entsprechenden Abstufungen, um die geforderten sechs Bilder zu liefern, das war meine Lösung. Mit Thomas ging es zum Fliederbusch und binnen Sekunden hatten wir Streit, denn mein Freund behauptete doch glatt, dass der Zeiger des Belichtungsmessers am Kameragehäuse und auch im Sucher durch die richtige Wahl von Blende und Belichtungszeit mittig auszurichten sei, denn schließlich gebe es doch die Markierung in der Mitte der beiden Belichtungsmesser. Ich blickte ihn an, als wäre er von Sinnen. Ich erklärte, der Zeiger müsse ganz rechts stehen, um die Fotos richtig auf den Film zu bannen – offenbar war ich in diesem Moment frei von jeder logischen Überlegung. Ich insistierte, der Lehrer habe das genau so erklärt und ich würde das jetzt einfach so machen. Unserer Freundschaft tat das keinen Abbruch, denn ich war missbilligende Blicke zu dieser Zeit schon gewohnt und er kannte meine Sturheit, die ich gerne mit erblich erkläre. Ich knipste die Fliederblüten, den Zeiger stets rechts am Anschlag, denn die Züge eines recht-haberischen Unbelehrbaren mussten ja ausgelebt werden. Deswegen konnten mich die, im Nachhinein natürlich als berechtigte Interventionen anzusehenden Ratschläge des Freundes, so gar nicht erreichen. Danach übernahm Thomas die Regentschaft über die Kamera, was er an Serie umsetzte, weiß ich nicht mehr. An die Auswertung der Fotoreihen im Unterricht kann ich mich ebenfalls gar nicht erinnern, manchmal glättet das Vergessen unliebsame Scharten. Nur vermute ich mal, dass meine Fotos gnadenlos überbelichtet und somit weißen Flieder vor weißem Hintergrund zeigten – „Brutal High Key“ könnte es heute euphemistisch genannt werden. Wie die Negative auch gewendet worden sein mögen, es dürfte sich um eine recht konturlose Angelegenheit gehandelt haben. Das hat mich allerdings nicht abgehalten, ein paar Tage später die Silette LK von meinem eigenen Geld zu kaufen und von da an den Belichtungsmesser nicht mehr aus der Mitte der Anzeige zu lassen. So kam es zur ersten Kamera, die ich selbst bezahlte und die mir lange Freude machte, weil alles nur manuell einzustellen ist. Vorher hatte ich mit einer Kodak Instamatic 133, die ein Kommunionsgeschenk meiner Patentante war, geknipst, bei diesem Modell gab es nur – ganz übersichtlich – Sonne oder Nicht-Sonne/Blitzwürfel zu wählen.
16.04.14